(...) Mario lag nackt auf einer alten, rostigen Liege in der Ecke eines finsteren Lochs, die Arme nach links und rechts abgespreizt und mit breiten Kabelbindern an das Gestell gefesselt. Eine dicke Nylonschnur, die mehrfach unter dem Bett durchgezogen war, fixierte seine Beine. In der Luft hing der modrige Geruch von alten, feuchten Steinen und in regelmäßigen Abständen klatschte ein großer Wassertropfen von einem an der Decke entlanglaufenden Heizungsrohr auf seine Stirn. Eine nackte, von Spinnweben überzogene Glühbirne tauchte das Verlies in ein trübes Licht. Mario versuchte, seine Gedanken zu sortieren, doch in seinem brummenden Schädel war nichts als ein tiefer, gähnender Abgrund. Klatsch. Der nächste Tropfen traf ihn und lief in einer dünnen Spur in sein rechtes Auge, was ein weiteres reflexartiges Zucken der Augenlider zur Folge hatte. Er wusste weder, wie lange er schon auf dieser Pritsche lag noch, wie er hierher gekommen war. Wieder nahm er ein entferntes Rattern wahr, das ein paar Sekunden später in einem lauten Donnern durch seinen Kopf dröhnte und sich dann genau so schnell wieder entfernte, wie es gekommen war. Dann versank der Raum wieder in einer unerträglichen, einsamen Stille, fern jedes Sonnenstrahles, fern jeden Lebens. Er schloss seine brennenden, rotgeränderten Augen und ließ sich von einem dämmrigen Halbschlaf davontragen. 
Hinter einer kleinen Mauer kauerte ein Mann und ließ den Güterzug vorbeirauschen, bevor er schnell über die Gleise huschte und knarrend die Tür des verlassenen Eisenbahnhäuschens öffnete. Der Wind pfiff durch die zerbrochenen Fenster und ein einsamer, verblichener Vorhang wehte wie der Umhang eines Geistes vor der schmutzigen Glastür, die auf eine mit Unkraut überwucherte Terrasse führte. Der Ort war verlassen und schon vor Jahren dem Verfall übergeben worden. Selbst für die Obdachlosen und Junkies war das verfallene Haus zu weit weg von den belebten Straßen und glänzenden Fassaden der Zivilisation entfernt. Er hatte dieses Gebäude nur durch einen Zufall entdeckt, als sein ICE mal wieder aufgrund einer klemmenden Weiche oder eines defekten Signals auf freier Strecke anhalten musste. Wie aus dem Nichts lag dieses Gebäude direkt vor dem Fenster seines 1. Klasse-Abteils. Ein spöttischer Kontrast zu seinem weichen Ledersitz und der warmen Kaffeetasse in seiner Hand. Heruntergekommen. Halb verfallen. Mit Efeu und Unkraut überwuchert. Selbst die Graffitispuren waren verblichen und kaum mehr erkennbar. Und genau an diesen Ort hatte er sich erinnert, als er vor einiger Zeit nach geeigneten Plätzen für seine teuflischen Pläne Ausschau hielt. 
Er trat über die zersplitterte Schwelle und schloss die Tür, die quietschend ins rostige Schloss fiel. Staubfäden hingen in der stickigen Luft und reizten ihn in der Nase. Schnell durchschritt er den Flur und öffnete eine schmale Holztür, hinter der graue Betonstufen in den feuchten Keller führten. Er drehte an dem Lichtschalter und wie durch ein Wunder erweckte dies eine schummrige Lampe zum Leben. Vorsichtig stieg er die Treppen hinunter und stand einen Augenblick später vor einer weiteren, rostigen Tür. Er griff mit der Hand nach oben, nahm den hinter einem Mauervorsprung versteckten Schlüssel und steckte diesen ins Schloss. Hinter der Tür schreckte Mario aus seinem Halbschlaf und öffnete die Augen. Er hatte in der Stille ein kratzendes Geräusch vernommen. Er lauschte, ohne Zweifel. Jemand stand vor der Tür und drehte einen Schlüssel im Schloss um. Ein Schwall Adrenalin schoss durch seinen zusammengeschnürten Körper und löste eine Welle der Panik in ihm aus. Entgeistert starrte er zur Tür, die sich jetzt langsam öffnete. Ein Mann trat mit gesenktem Kopf in den Raum und kam dann mit einer verächtlichen Miene auf Mario zu, durch dessen Kopf tausende Bilder schossen. Er war sich sicher, diesen Mann schon einmal gesehen zu haben. Nur wo?
Verdammt. Denk nach. Doch in seinem Kopf drehte sich alles, und der Schwindel drohte ihn bereits wieder zu überrollen. Der Mann zog sich einen klapprigen Stuhl heran und setzte sich zu Mario, dessen Augen sich bereits wieder verdrehten. „He, hiergeblieben!“, fuhr er ihn an und holte ihn mit einem Schlag der flachen Hand wieder zurück in den Keller. „Wir sind noch nicht fertig!“ Damit griff er in seine Tasche, die er neben den Stuhl gestellt hatte, und zog ein kleines, gelbes Schildchen hervor, mit dem er Mario vor den ausdruckslosen Augen herum wedelte. Ein weiterer Griff in die Tasche, und er hatte seinen Druckluft-Tacker in der Hand. Er presste Mario das Etikett an die Stirn und wollte den Tacker gerade ansetzen, als er innehielt. Mario war wieder für einen Moment zu sich gekommen und stierte das Gerät, das vor seinem Gesicht in der Luft schwebte, mit angstverzerrten Augen an. (...)
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